«Darf ich mich mal reinsetzen?» Dies war mein erster Fehler. «Darf ich ne Runde mit ihm drehen?» Dies war dann mein zweiter und entscheidender Fehler. Doch der eigentliche Schuldige, der Verantwortliche für die ganze Misere, war einmal mehr der Richu. Er war es, der mich mit den Worten: «Hast du den Lincoln um die Ecke gesehen, der zu verkaufen ist? Der wäre doch was für dich!», aus meinem Konzept riss. Es war der letzte Sonntag im Monat und somit Oldtimer Treffen Bleienbach. Das legendäre Treffen, welches mittlerweile einen grossen Bekanntheitsgrad geniesst und Oldtimerliebhaber aus der ganzen Schweiz und dem nahen Ausland nach Bleienbach, Nähe Langenthal lockt. Und es war nicht einfach nur ein letzter Sonntag, es war DER letzte Sonntag! Im April angefangen, konnte unser Verein, die Friday Night Cruisers, als Organisatoren, auf sieben erfolgreiche Treffen zurückblicken und eben an diesem letzten Oktobersonntag bestritten wir unser achtes und somit letztes Treffen im Jahr 2023. Petrus meinte es gut mit uns, das Wetter zeigte sich von der besten Seite und in Verbindung mit dem Sonderthema «For Sale», lockte es an diesem Tage ausgesprochen viele Schaulustige, Liebhaber, Gaffer, Händler und Oldtimerbesitzer nach Bleienbach. Und da es bei diesem Ansturm an allen Ecken zu wenig Personal hatte, sah ich mich als OK Präsident verpflichtet, mich als zusätzlichen Helfer dort anzubieten, wo Not am Mann war. Um mir einen Überblick zu verschaffen wo ich mich am besten einbringen könnte, begab ich mich um die Ecke um mich nach dem Verkehrsaufkommen zu orientieren. Als ich in raschen Schritten um das Gebäude Richtung Eingang lief, sah ich ihn im Augenwinkel. Er stand alleine auf einem Platz, auf welchem im Normalfall mindestens drei Oldtimer stehen. Das ging nun aber nicht, da der Lincoln da stand. Der Lincoln ist eines dieser Amerikanerautos, welches unschuldig auf einem Parkplatz stehend von vorbeigehenden Menschen hemmungslos als «Strassenkreuzer» oder «Riesenschiff» bezeichnet wird. Es ist auch der Amerikaner, bei dem sich der Besitzer beim Auftanken von vorbeigehenden Passanten Sprüche wie: «der säuft bestimmt 25 Liter auf 100 Kilometer» oder «Der hat sicher grossen Durst», anhören muss. Der Lincoln Mark V ist das Auto, bei dem man beim ersten betrachten vermuten könnte, dass man damals einem Kleinkind einen Stift und ein Blatt Papier in die Finger gedrückt hatte und ihm den Auftrag gab, zeichne ein Luxusauto für reiche Menschen. Mit ein paar wenigen Strichen war ein Auto entstanden, dessen Frontparteie viel zu lang, der Fahrgastraum knapp ausreichend und das Heck viel zu kurz geraten war. Würde ein guter Zeichner heute den Lincoln Mark V mit wenigen Strichen zeichnen, würde es spontan tatsächlich an ein Comic-Auto erinnern. Man würde überhaupt nicht vermuten, dass es sich um ein Serienfahrzeug handelte und Laien würden meinen, dass es sich um einen Prototypen oder einen automobilen Scherz handeln könnte. Tatsächlich aber sind die von 1977 – 1979 gebauten Mark V die grössten jemals gebauten Serien-Coupes die jemals von einem Automobilhersteller gebaut wurden! Wie bereits erwähnt, hatte ich den Lincoln lediglich im Augenwinkel wahrgenommen und doch hatte er mich in diesen Bruchteilen von Sekunden in seinen Bann gezogen. Dieses Auto beeindruckt, ob man nun Amerikanerwagen mag oder nicht.
An seiner Seite stand ein älterer Herr, der sich mit einer Gruppe Menschen unterhielt, womöglich Interessenten. Das Sonderthema «For Sale» lockte tatsächlich viele Schaulustige und womöglich auch Interessierte auf den Platz. Und der Lincoln machte in dem kurzen Augenblick in dem ich ihn sah einen dermassen originalen und authentischen Eindruck, dass ich die Menschentraube um den Wagen nachvollziehen konnte. Würde der Preis stimmen, da war ich mir sicher, würde der Amerikaner rasch seinen Besitzer wechseln. Innerlich nervte ich mich sogar ab den möglichen Händlern die bestimmt auf den Besitzer einredeten, den Wagen schlecht machten und mit dieser Masche versuchten, den Schlitten für günstiges Geld abzuläschelen. Nun, ich hatte schlicht keine Zeit dass ich mich um den Lincoln hätte kümmern können und es wäre mir auch zu doof gewesen, mich durch die anderen Interessenten hindurch zu pflügen bis ich mit dem Besitzer ein paar seriöse Worte hätte wechseln können.
Ich hatte erkannt, dass der Verkehr die Sache im Griff hatte und so unterstützte ich die Kollegen hinter dem Grill. Bald einmal vergass ich den Lincoln zwischen Wurst wenden und Brot schneiden und es dauerte nicht lange, drohte das Brot sogar auszugehen. Schnell musste solches organisiert werden, telefonisch liess ich in der nächsten Bäckerei acht Brote aufbacken, welche kurze Zeit später von Richu und mir abgeholt werden konnten. Die Brot-Tour machten wir standesgemäss in Richus 1957er Chevrolet Belair. Als wir zurückkamen, fuhren wir am Lincoln vorbei. «Sieht doch heiß aus der Schlitten, meinst du nicht?» konnte sich Richu den Spruch nicht verkneifen. Ich musste ihm beipflichten. Dieses riesige Coupe in seiner gelben Lackierung machte trotz seiner unglaublichen Masse einen dezenten Eindruck und vermittelte Contenance. Das Gelb ist eine dieser Farben die mich schon immer begeisterten. Diese Herbsttöne, Gold, Gelb, Braun finde ich grossartig. Der Besitzer – ich ging zumindest davon aus, dass es sich um den Besitzer handelte – war wieder am Auskunft erteilen. Wieder half ich am Grill mit, bediente die Kunden mit Bratwürsten, schnitt Brot und lieferte den Helferinnen im Foodwagen Getränke nach. Als ich austreten musste, machte ich eine Runde über das Ausstellungsgelände um mir einen Überblick über das Verkehrsaufkommen zu verschaffen. Beim Zurückgehen kam ich wieder am Lincoln vorbei. Der ältere Herr unterhielt sich lediglich noch mit einem Pärchen und es machte nicht den Anschein, als würde es sich um ein konkretes Verkaufsgespräch handeln. Daher erfrechte ich mich, kurz dazwischen zu funken: «Darf ich mich mal reinsetzen?»
«Selbstverständlich» meinte der ältere Herr zuvorkommend und öffnete mir sogar die Tür. Als ich mich in den Wagen setzte wurde ich von dem Fahrersitz sofort umarmt. Es war, als hätte ich mich nicht auf den Sitz gesetzt, sondern der Sitz hätte sich mir angenommen. Das Pärchen hatte sich verabschiedet, sie schienen den Lincoln Besitzer zu kennen und wollten ihm bei einem möglichen Verkaufsgespräch nicht im Weg stehen. Eigentlich hatte ich keine Zeit und ich hätte längst wieder am Grill stehen müssen. Doch dieser Moment im Lincoln liess für einen kurzen Augenblick alles um mich herum vergessen. Die Zeit schien für einen Augenblick still zu stehen. Ich fragte den Mann, ob er mir in kurzen Worten die Geschichte über den Wagen erzählen könne. Er tat dies gerne und so erfuhr ich, dass der Lincoln aus einer Privatsammlung stammen würde, was mich in Anbetracht des makellosen Zustands nicht überraschte. Als der Erstbesitzer verstorben sei, habe er die Gelegenheit bekommen, den Lincoln zu übernehmen. Damals habe er 12000 km auf dem Tacho gehabt, nun, 27 Jahre später hat er 40000 km. Ich war beeindruckt. «Der Lincoln hat noch nie Regen gesehen, geschweige noch Schnee oder Salz», versicherte mir der Besitzer. Und genau so sah der Wagen auch aus. Das Interieur war in einem atemberaubenden Zustand. Die Vordersitze waren mit diesen klassischen Schafsfellüberzügen überzogen: «zum Schutz», wie mir der Besitzer verriet. «Können wir eine Runde drehen?»
«Klar» meinte der sympathische Herr sofort. Als wäre ich von der Schönheit Medusas in ihren Bann gezogen gewesen, konnte ich dem Charme des Lincolns einfach nicht widerstehen. Ich outete mich gegenüber dem Mann, dass ich eigentlich helfen müsste und daher nicht viel Zeit habe. Der Mann nahm auf dem Beifahrersitz Platz und dann reichte er mir seine Hand: «Ich heisse Toni». Nach ein paar kurzen Anstandsfloskeln wollte ich nun den Wagen fühlen. Ich zog die Fahrertür zu und gefühlt das Gewicht eines Fiat 500 rastete mit einem satten Klack im Schloss ein. Ein kurzer Dreh am Zündschlüssel und der Big-Block V8 schnurrte dezent vor sich hin. «Ist es der sieben..?»
«Genau, der 7,6 Liter Motor», ergänzte Toni meine Frage stolz. Nebst dem 500 cui Motor von Cadillac war der 460 cui des Lincolns der grösste V8 Motor der jemals in Serienfahrzeugen verbaut wurde.
Den Schalthebel auf «D» wie Drive gestellt, konnte die Fahrt losgehen. Bereits die ersten wenigen Meter waren ein unglaubliches Fahrerlebnis. Spontan kam mir Rolls Royce in den Sinn. Es ist die englische Luxusmarke die das Fahrgefühl mit dem Lincoln am ehesten Vergleichen lässt. Dank guten Beziehungen hatte ich das Glück, schon mal Rolls Royce gefahren zu haben, daher erlaube ich mir diesen Vergleich. Und tatsächlich nahm Lincoln damals bei der Fahrzeugproduktion die englische Luxusmarke als Massstab und nicht etwa Cadillac oder sonst eine amerikanische Luxusmarke. Lincoln wollte hoch hinaus, aus diesem Grund wurde Rolls Royce ins Visier genommen. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass sich viele amerikanische Präsidenten und andere Staatsmänner für einen Lincoln entscheiden. 1965 wurde in einem Lincoln der amerikanische Präsident, John F. Kennedy erschossen, weshalb der Wagen auf tragische Weise seine Berühmtheit erlangte.
Als ich im Schritttempo bei meinen Kollegen am Grill und Foodwagen vorbeifuhr, erntete ich nur verblüffte Blicke. Wie ein Adelsmann hob ich meinen Arm und winkte meinen Kollegen in königlicher Manier zu. Dann verliessen wir das Ausstellungsareal und als ich auf die Hauptstrasse einbog, drückte ich das Gaspedal etwas herzhafter durch. Als wäre der Lincoln an einem Gummiband befestigt gewesen, beschleunigte der Schlitten sanft und gleichmässig bis die erlaubten 80 km/h erreicht waren. Es war schlicht unglaublich. Als hätten die Räder nie die Fahrbahn berührt. Ich bin schon mit vielen Luxuswagen gefahren und wie bereits erwähnt, nur Rolls Royce kam an dieses Fahrgefühl heran. Das verschachtelte Armaturenbrett aus Echtholz untermauerte den Luxus und ein Blick auf die Cartier Uhr verriet das Unterstatement mit diesem weiteren Detail. Der Wagen bot alles, sogar ein elektrisches Schiebedach! Klimaanlage und elektrische Sitzverstellung wie Scheibenheber waren Standard. Was mich hingegen verblüffte war, dass das Lenkrad weder in der Höhe, noch in der Tiefe verstellt werden konnte. Sogar meine Trans Am können das Lenkrad in der Höhe verstellen. Hier musste Lincoln aus irgendwelchen Überlegungen – oder eben auch nicht – darauf verzichtet haben. Während der gesamten Fahrt hatte ich die längste Zeit über dieses dämliche, überhebliche Grinsen im Gesicht. Im Innenspiegel betrachtete ich mein grau meliertes Haar, dann blickte ich nach unten auf meine Wampe und in diesem Augenblick musste der Entscheid gefallen sein. Ich bin Präsident der Friday Night Cruisers, einem US-Car Club, trage mein Wohlstandsbäuchlein und habe graues Haar. «Jawohl Marc, das ist nun ein alters- und deiner Rundungen gerechter Amerikanerwagen, den du dir verdient hast!» Diese Ausrede schmiedete ich mir in der Schnelle zurecht, falls ich Toni im Anschluss an die Probefahrt die Zusicherung für den Kauf geben würde. Toni musste meine Begeisterung für den Wagen erkannt haben und er griff mit einer Antwort auf eine noch nicht gestellte Frage meinerseits vor. «Im Fall eines Kaufs, gehe ich den Lincoln noch frisch vorführen, Veteran versteht sich». Toni war, wahrscheinlich ohne es selber zu wissen, ein grossartiger Autoverkäufer. Denn genau diese Frage brannte mir auf der Zunge und ich hätte sie gleich gestellt. Die letzte Motorfahrzeugkontrolle und ob der Code 180 für Veteranenfahrzeuge eingetragen ist, interessiert jeden potentiellen Käufer. Mit der Zusicherung, dass er den Lincoln frisch als Veteran vorführen würde, bewies Toni sein vollstes Vertrauen in den Lincoln betreffend des tadellosen Zustands. Zugegeben, nach eingehender Betrachtung und einer kurzen Probefahrt konnte ich mir tatsächlich keinen Grund vorstellen, weshalb der Lincoln nicht erneut als Veteran zugelassen werden sollte. Der Unterboden des Wagen sei ebenfalls gelb wie die Lackierung der Karosserie. Nicht wegen meiner Unbeweglichkeit, nicht wegen des Zeitdrucks weil ich längst wieder hinter dem Grill hätte stehen sollen, verzichtete ich darauf unter den Wagen zu schauen. Nein, ich vertraute einfach den Worten von Toni und dem ehrlichen Zustand des Wagens. Zurück auf dem Ausstellungsgelände war ich mir sicher, dass Toni wusste, dass er seinen Lincolnkäufer gefunden hat und ich war mir sicher, der neue Lincolnbesitzer zu werden. Dennoch hielt ich mich mit übereilenden Zusicherungsworten zurück und sagte Toni, dass ich ein – zwei Nächte darüber schlafen und mich dann bei ihm melden werde. Wir schüttelten uns freundschaftlich die Hände und mein Tag hätte erfolgreicher nicht enden können. Zurück am Grill liess ich die ersten paar Würste schwarz werden, da ich gedanklich noch immer im Lincoln sass. Ja, dieses letzte Oldtimertreffen im Jahr 2023 würde mich teuer zu stehen kommen, dies wusste ich zu diesem Zeitpunkt schon.
Ich hoffe sehr, dass Leser der Geschichte den Titel nicht für bare Münze nehmen. Zugegeben, ich bin ein sehr stolzer Präsident. Jedoch nicht, weil ich auf Titel stehe oder es mein Ego aufpolieren sollte, sondern, weil es der beste Club ist, den man sich vorstellen kann!! Und dafür hat der Präsident wenig Schuld daran. Es sind die rund achtzig Mitglieder, welche den Verein zu dem geformt haben, was er heute ist. Nämlich eine grosse Familie mit hochmotivierten Mitgliedern. Jedes einzelne Individuum trägt dazu bei, dass es der beste Club überhaupt ist und ich mich gerechtfertigt, mit Stolz als Präsident bezeichnen darf. Wenn ich die Einsatzstunden zähle, welche die Mitglieder für die Treffen in Bleienbach aufwenden, die Fronarbeiten welche sie in ihrer Freizeit opfern, bin ich mir sicher, da lässt sich nicht so schnell ein vergleichbarer Verein finden! Und ja, alle haben mir zum Kauf des Lincolns gratuliert und sie freuten sich mit mir über den Neuzuwachs im Verein. Zugegeben, wenn ich ab und zu an einem Freitags-Cruising im Lincoln den Tross hinter mir anführe, kann es durchaus sein, dass man in diesem Moment eine leichte Überheblichkeit aus meinem Gesicht ablesen kann...